DEZEMBER 2022
Die Erleuchtung durch Sex? Ein hübscher Traum, der in eine bittere Enttäuschung mündet.
Lucia Lutti, Interview mit Daniel Odier, erschienen in « La Nazione », Italien.
Die Suche nach dem Wohlbefinden ist eine Art, seine Spiritualität auszudrücken. Ist die Befreiung von Tabus mit der Sexualität verbunden, oder aber…? In den letzten Jahren spricht man vermehrt über Tantra, doch reichlich verworren, in einem solchen Masse, dass nur wenige wirklich verstanden haben, worum es geht.
Der Schweizer Daniel Odier ist Lehrer, Schriftsteller, Autor von Romanen, Philosoph und Dichter, Spezialist des buddhistischen Shivaismus sowie des kaschmirischen Tantrismus, Chan-Meister (das ursprüngliche, chinesische Zen). In der ganzen Welt als einer der westlichen Tantra-Meister bekannt, hat Daniel Odier diese vor 7000 Jahren im Hindustal entstandene Tradition zugänglich gemacht. Möglicherweise ist es die einzige frühe Philosophie, die sämtliche Sprünge der Geschichte durchlaufen hat, um dann unversehrt in einer ununterbrochenen Übertragung von Meistern zu Schülern zu uns zu gelangen.
Nach „Tantra – Eintauchen in die absolute Liebe„ und „Die verrückte Weisheit der Yoginis“ ist unterdessen der dritte Band erschienen und konzentriert sich auf die Lehre, die dem Autor direkt von der Yogini Lalita Devi übertragen worden ist. Diese Lehre zeigt den Pfad der völligen Liebe und führt zur Freiheit des Seins. In „Kaula. Der königliche Weg der Shakti“ (alle drei bei Aquamarin Verlag) interpretiert Odier die Geheimpraktiken, die im Kaulajnananirnaya Tantra zu finden sind, einem esoterischen Text, dessen Lehren dem legendären Meister Matsyendranath zugeschrieben werden. Schwierig zu begreifende Themen, die auch heute noch mehr und mehr Menschen auf der ganzen Welt und aus verschiedensten Gesellschaftsschichten anziehen. Wir reden direkt mit dem Autor darüber.
Was ist Tantrismus ?
Der Tantrismus ist ein mystischer Pfad, der vor 5000 Jahren im Hindustal entstanden ist und zu Beginn unseres Zeitalters wieder in Kaschmir aufgetaucht ist, dank der Überlieferung der Yoginis, die die verrückte Weisheit verkörperten. Deren intensiven Art, die bilderstürmerische Methode und die kraftvollen Praktiken kann man empfinden, wenn man Matsyendranath liest: „Kaula. Der königliche Weg der Shakti
Worin besteht der Unterschied zwischen Tantrismus und Neotantra?
Da gibt es nichts als Unterschiede. Der Tantrismus ist ein mehrere Jahrtausende alter außerordentlich reicher Weg, verkörpert durch große Mystiker wie Somananda, Abhinavagupta, Utpaladeva oder die Dichterin Lalla. Eine spirituelle Linie, eine Philosophie, eine sehr vielfältige ästhetische Vision. Neotantra ist eine kalifornische Erfindung der 60ger Jahre, aus der Notwendigkeit einer sexuellen Befreiung entstanden, in der sämtliche neue psychologische Richtungen der 60ger Jahre wie der Urschrei, die Gestalttherapie, … die Verwendung von Halluzinogenen zu einem auf Übungen basierenden Cocktail vermischt worden sind, die dem tantrischen Weg diametral entgegengesetzt sind und mit der heutigen Erregtheit vollkommen konformgehen.
Warum beziehen sich die Leute, wenn sie heutzutage über Tantrismus reden, hauptsächlich auf Sexualität und Erotik?
Weil das eine einfache, sehr westliche und naive Sicht der Dinge ist, aber auch, weil eine derartige Verwirrung, eine derartige sexuelle Not herrscht, dass die Vorstellung, durch Sex zur Erleuchtung zu kommen dazu angetan ist, den allermeisten zu gefallen. Ein hübscher Traum, der in eine bittere Enttäuschung mündet.
Was hältst du vom spirituellen Materialismus?
Chogyam Trungpa hat als erster diese Definition verwendet, als er in Amerika entdeckt hat, dass die Regeln des Materialismus auf die spirituelle Suche übertragen worden waren. Ein Ziel erreichen wollen, sich anstrengen, siegen, wenn es um Hingabe, Entspannung, Atem, Präsenz, Entzücken und Freude geht. Trungpa hat mit Genauigkeit auf unser größtes Problem verwiesen.
Was hat dich dazu gebracht, dich auf einen spirituellen Weg zu wagen?
Mit sechzehn Jahren habe ich auf den Ratschlag einer Freundin meiner Eltern Aurobindo und später D. T. Suzuki gelesen, dessen Essays über Zen. Diese Texte haben mich buchstäblich in einen Raum von unvorstellbarer Frische und Freiheit transportiert. Ende der 60ger Jahre habe ich meine erste Reise nach Indien unternommen. Und dort habe ich Dudjom Rinpoche, Chatral Rinpoche Dilgo Kyentse und Kalu Rinpoche, der mein wunderbarer Meister geworden ist, getroffen. Dank ihm und dank seiner großen Offenheit bin ich anschließend nach Kaschmir gegangen, wo ich Lalita Devi getroffen habe, eine wilde, intensive Yogini, eine Verkörperung der verrückten Weisheit, und ich habe ihre Übertragung erhalten. Ihre Unterweisung und ihren Stil habe ich in drei Büchern ausführlich beschrieben: „Tantra – Eintauchen in die absolute Liebe“, „Die verrückte Weisheit der Yoginis“ und „Kaula. Der königliche Weg der Shakti“.
Was war der schwierigste Moment auf deinem spirituellen Weg?
Die physische Trennung von Lalita, die darauffolgende Krise, die Versuchung, alles aufzugeben, sogar das Leben.
Was sind die Fallen der spirituellen Suche?
Die größte Falle ist die Vorstellung, dass jemand die Arbeit an unserer Stelle macht, dass wir uns auf ein zu erreichendes Ziel zubewegen und dass das Göttliche sich außerhalb von uns selbst befindet. Die Verachtung des Körpers, die Idee der Reinigung, die Suche nach einem mentalen Verstehen, wo doch drei Sekunden Samadhi alle Geheimnisse offenbaren. Der Freiheitsverlust durch die Unterwerfung unter einen Meister, eine Doktrin, einen Glauben, ein Dogma. Nur wenn man sich von all dem befreit, funkelt der Herzensrubin.
Warum hast du begonnen zu unterweisen?
Wenn man einen Schatz erhält, ist es undenkbar, ihn nicht unmittelbar weiterzugeben. Man muss einfach warten, bis man ihn integriert hat, bei mir waren es fünfundzwanzig Jahre.
Was ist der Kern Deiner Unterweisung?
Die direkte Übertragung des kaschmirischen Mahamudra durch die Pfade von Spanda, Pratyabhijna und Kaula. Diese Übertragung geschieht von Herz zu Herz, sie beruht auf einer sehr einfachen Idee: Du bist das, was du suchst.
Worin liegt die Wichtigkeit in der Beziehung zwischen Meister und Schüler?
Sie ist entscheidend. Es ist eine direkte, tiefe und sowohl für den Meister wie auch den Schüler berauschende Beziehung. Es ist die einzige Liebesbeziehung, die niemals stirbt, nicht einmal nach dem Tod des Meisters. Es handelt sich um eine göttliche Trunkenheit, in dem Sinn, wie Lalla, Rumi oder Hafiz sie verstanden haben. Es ist die direkteste Art, all seinen Projektionen, seinen Erwartungen, um nicht zu sagen, seinen Ansprüchen zu begegnen. Von Grund auf verstehen, d.h. mit dem Herz-Geist zu realisieren, dass man all das aufgeben muss, um mit seinem Meister eins zu sein. Es ist eine totale Entäußerung, eine absolute Nacktheit des Seins, der Vibrationskörper, der mit dem Kosmos eins ist.
Welche Eigenschaften muss ein Meister besitzen?
Die erste ist Großzügigkeit, die Liebe zur Gesamtheit. Eher die Lehre verkörpern, als Wissen zu liefern. Idealerweise gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was er sagt und dem,was er tut. Spontaneität, Mut und Kreativität beim Unterweisen, immer frisch wie ein Fluss, voller Energie und Überraschungen.
Was sind die Eigenschaften eines guten Schülers?
Leidenschaft, Mut, das brennende Verlangen, zum Kern der Dinge zu gehen und dabei Angst, persönlichen Ehrgeiz aufzugeben und die Energie für eine beständige, aber entspannte Praxis zu haben. Der spielerische Geist ist ebenfalls wichtig, Kreativität, Spontaneität. Doch wichtiger als alles ist, ab einem gewissen Moment zum Verständnis zu gelangen, dass Meister und Schüler eins sind.
Was ist Übertragung?
Auf einem traditionellen Weg sind wir uns bewusst, dass wir Teil einer Übertragungslinie, ein Glied einer unendlichen Kette sind. Die Übertragung geschieht kontinuierlich. Sie kann sich auch manifestieren, wenn ein Meister seinem Schüler nach einer langen Bewährungsprobe die Aufgabe anvertraut, nun selbst zu unterweisen. Beim Chan und vielen anderen traditionellen Wegen ist das ein sehr ritueller Moment. Man erhält das Gewand des Meisters, seine Mala, den berühmten Fliegenwedel. Eine wunderbare Zeremonie, eine große Verantwortung, die Essenz des Weges zu überliefern. Im kaschmirischen Tantrismus geschieht es direkt, von Herz zu Herz, ohne besondere Zeremonie. Die Erfahrung des Erwachens ist die Pforte.
Wie kann man die Authentizität eines wahren Meisters erkennen?
Sich vergewissern, dass ein Meister wirklich die Übertragung seiner Linie erhalten hat und dass es sich nicht um einen selbsternannten Meister handelt, wie es heute häufig der Fall ist. Das ist keine absolute Garantie, aber ein Zeichen. Dann soll man seiner Intuition vertrauen. Ein Meister kann nicht für alle sehr gut sein. Es gibt Affinitäten, die man beachten muss, wie in der Natur. Eine Biene fliegt nicht zu jeder Blume. Es geht nicht darum, mit der Lehre übereinzustimmen. Es gibt große Konfrontationen, die beim Herunterreißen unserer konzeptuellen Kleider mehr von Nutzen sind. Den Menschen in seiner absoluten Nacktheit sehen!
Warum beschäftigen sich so viele Menschen in diesem historischen Moment mit Spiritualität?
Weil es Mode ist, weil große Verwirrung herrscht, große Furcht, große Gewalttätigkeit, aber auch ein großes Drängen des Menschen, konventionelle Rahmen zu sprengen und ein aufrichtiges Verlangen, in die Tiefe vorzudringen, das Herz der Welt schlagen zu hören und die unglaubliche Schönheit zu sehen, die sich fortwährend um uns herum entfaltet.
Wie ist Spiritualität ins tägliche Leben integriert?
Spiritualität ist das tägliche Leben. Wie du frühstückst. Wie du jede Einzelheit im Leben siehst, wie du mit dem Wirklichen harmonisierst, wie du in der mentalen Stille das Leben dich durchdringen lässt. Das bedeutet ganz einfach, auf der Welt zu sein, in einem Körper aus Stille und Raum.
Wie würdest du dich einer Person gegenüber äußern, die sich zum ersten Mal mit Spiritualität befasst?
Die Augen offenhalten, schnuppern, mal hier-, mal dahingehen. Bis zur Liebe auf den ersten Blick sich mit verschiedenen Wegen und Lehrern befassen. Intensiv zweifeln, aber die Galle des Zweifels schnell aufzehren, andernfalls ist man auf ewig vergiftet.
Welchen Rat würdest du einer Person geben, die seit langem einen spirituellen Weg praktiziert?
Sich einige Fragen stellen: Bin ich glücklich? Spontan? Befreit von Dogmen, Gewissheiten, Glaubenssätzen? Taucht Freude in meinem Alltag auf? Wovor habe ich noch Angst? Ist mein Leben eine Feier der Schönheit?